Deutsches Vorwort / English Introduction
Ichheiser, Gustav
(geb. 25.12.1897 in Krakau; gest. 8. November 1969 in Chicago, IL)
Autoren: Lisa Woller and Gustav Ichheiser
Abb: Portrait of Gustav Ichheiser in 1942 from his immigration papers (accessed by Lisa Woller on July 18th, 2013, Ancestry.com. Alabama, Immigration registry, 1909- 1991 [online data base]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations, Inc., 2013. Original Data: Alabama Naturalization Records, 1909-1991. Records of the District Courts of the United States, 1685– 2004. Record Group 21. The National Archives at Atlanta. Atlanta, Georgia,USA)
Biografie: Gustav Ichheiser wurde am 25. Dezember 1897 als zweiter Sohn einer jüdischen Rechtsanwaltsfamilie in Krakau geboren. 1914, der Vater war mittlerweile gestorben, übersiedelte er mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Wien. Nach Abschluss der Reifeprüfung im Juni 1915 rückte er in den Krieg ein. An einer schweren Mittelohrentzündung erkrankt, kam er im August 1918 zurück nach Wien, wo er im Herbst 1918 an der Juridischen Fakultät der Universität Wien ein Studium der Rechtswissenschaften aufnahm. 1920 wechselte er an die Philosophische Fakultät über, an der er 1924 bei Karl Bühler (1879-1963) mit einer kritischen Untersuchung über den Gegenstand der Ästhetik (Ichheiser, 1924) zum Dr. phil. promovierte. Nach der Rückkehr von einem längeren Italienaufenthalt arbeitete er in Wien als Journalist. 1926 trat er als Mitarbeiter in Berufsberatungsamt der Stadt Wien und der Arbeiterkammer Wien ein, wo er u. a. psychotechnische Eignungsprüfungen an Schulabgängern durchführte (Tauber, 2002). Nebenher lehrte er bis 1934 Psychologie und Soziologie an verschiedenen Wiener Volkshochschulen. Zwischen 1934 und 1938 pendelte Ichheiser zwischen Wien und Warschau hin und her, in Warschau war er mit dem Instytut Spraw Społecznych assoziiert. Nach dem sogenannten Anschluss flüchtete er über die Schweiz nach London, wo er bei Karl Mannheim (1893-1947) an der University of London arbeitete. 1940 emigrierte er in die USA.
Ichheiser ging nach Chicago und suchte Anschluss an das Department of Sociology an der University of Chicago. 1943 arbeitete er als Psychologe am State Hospital in Manteno, Illinois, nach einer Affäre mit der Ehefrau eines Arztes und seiner Scheidung von Edith Weisskopf (1910-1983) nahm er von 1944 bis 1948 eine Stelle als Professor für Psychologie und Soziologie am Talladega College, Alabama, an. Zurück in Chicago, gelang es ihm nicht mehr, eine feste akademische Anstellung zu erhalten. 1951 erlitt er einen physischen und psychischen Zusammenbruch. Er wurde mit der Diagnose „paranoide Schizophrenie“ in das State Hospital in Peoria, Illinois, zwangseingewiesen und dort gegen seinen Willen fast zwölf Jahre lang festgehalten. 1963 endlich in „häusliche Pflege“ entlassen, kämpfte Ichheiser erneut darum, Anschluss an die University of Chicago zu finden. Im November 1969 schied er freiwillig aus dem Leben.
Werk: Ichheiser war ein äußerst produktiver Forscher, der sich zeit seines Lebens einer großen Fülle von thematisch sehr verschiedenen sozialpsychologischen Fragestellungen annahm. Die Fruchtbarkeit seiner letztlich auf Franz Brentano (1838-1917) zurückgehenden phänomenologischen Arbeitsweise demonstrierte er eindrucksvoll mit seiner Monografie über die Kritik des Erfolges (Ichheiser, 1930). In seiner Wiener Zeit publizierte er zudem zahlreiche Studien über berufs- und arbeitspsychologische Probleme. In den USA wurde er zu einem der Wegbereiter der modernen Attributionsforschung, wobei sich Ichheiser vor allem für die soziale Bedingtheit und die sozialen Auswirkungen von Attributionsprozessen interessierte (z. B. Ichheiser, 1949). Beachtung fanden schließlich auch seine um ethnische, insbesondere aber antisemitische Vorurteile kreisenden Beiträge zu einer politischen Psychologie. Über seine psychiatrische Internierung hat Ichheiser ein unveröffentlicht gebliebenes Manuskript verfasst, in dem er seine Krankheit und seine jahrelange Internierung in einer psychiatrischen Anstalt retrospektiv analysiert (Ichheiser, 1966).
Primärliteratur:
Ichheiser, G. (1924). Gegenstand der Ästhetik. Eine kritische Untersuchung. Dissertation, Universität Wien.
Ichheiser, G. (1930). Kritik des Erfolges. Eine soziologische Untersuchung. Leipzig: Hirschfeld.
Ichheiser, G. (1949). Misunderstandings in human relations: A study of false social perception. Chicago, IL: University of Chicago Press.
Ichheiser, G. (1966). Was I insane – or was I „railroaded“ to a state hospital? My own retrospective introspection. Unpublished manuscript, University of Chicago.
Tauber, H. (2002). Zwischen Arbeit und Kapital. Psychotechnik im Österreich der Zwischenkriegszeit. Diplomarbeit, Universität Wien.
Sekundärliteratur:
Rudmin, F., Trimpop, R. M., Kryl, I., & Boski, P. (1987). Gustav Ichheiser in the history of social psychology: An early phenomenology of social attribution. British Journal of Social Psychology, 26, 165-180.
(geb. 25.12.1897 in Krakau; gest. 8. November 1969 in Chicago, IL)
Autoren: Lisa Woller and Gustav Ichheiser
Abb: Portrait of Gustav Ichheiser in 1942 from his immigration papers (accessed by Lisa Woller on July 18th, 2013, Ancestry.com. Alabama, Immigration registry, 1909- 1991 [online data base]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations, Inc., 2013. Original Data: Alabama Naturalization Records, 1909-1991. Records of the District Courts of the United States, 1685– 2004. Record Group 21. The National Archives at Atlanta. Atlanta, Georgia,USA)
Biografie: Gustav Ichheiser wurde am 25. Dezember 1897 als zweiter Sohn einer jüdischen Rechtsanwaltsfamilie in Krakau geboren. 1914, der Vater war mittlerweile gestorben, übersiedelte er mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Wien. Nach Abschluss der Reifeprüfung im Juni 1915 rückte er in den Krieg ein. An einer schweren Mittelohrentzündung erkrankt, kam er im August 1918 zurück nach Wien, wo er im Herbst 1918 an der Juridischen Fakultät der Universität Wien ein Studium der Rechtswissenschaften aufnahm. 1920 wechselte er an die Philosophische Fakultät über, an der er 1924 bei Karl Bühler (1879-1963) mit einer kritischen Untersuchung über den Gegenstand der Ästhetik (Ichheiser, 1924) zum Dr. phil. promovierte. Nach der Rückkehr von einem längeren Italienaufenthalt arbeitete er in Wien als Journalist. 1926 trat er als Mitarbeiter in Berufsberatungsamt der Stadt Wien und der Arbeiterkammer Wien ein, wo er u. a. psychotechnische Eignungsprüfungen an Schulabgängern durchführte (Tauber, 2002). Nebenher lehrte er bis 1934 Psychologie und Soziologie an verschiedenen Wiener Volkshochschulen. Zwischen 1934 und 1938 pendelte Ichheiser zwischen Wien und Warschau hin und her, in Warschau war er mit dem Instytut Spraw Społecznych assoziiert. Nach dem sogenannten Anschluss flüchtete er über die Schweiz nach London, wo er bei Karl Mannheim (1893-1947) an der University of London arbeitete. 1940 emigrierte er in die USA.
Ichheiser ging nach Chicago und suchte Anschluss an das Department of Sociology an der University of Chicago. 1943 arbeitete er als Psychologe am State Hospital in Manteno, Illinois, nach einer Affäre mit der Ehefrau eines Arztes und seiner Scheidung von Edith Weisskopf (1910-1983) nahm er von 1944 bis 1948 eine Stelle als Professor für Psychologie und Soziologie am Talladega College, Alabama, an. Zurück in Chicago, gelang es ihm nicht mehr, eine feste akademische Anstellung zu erhalten. 1951 erlitt er einen physischen und psychischen Zusammenbruch. Er wurde mit der Diagnose „paranoide Schizophrenie“ in das State Hospital in Peoria, Illinois, zwangseingewiesen und dort gegen seinen Willen fast zwölf Jahre lang festgehalten. 1963 endlich in „häusliche Pflege“ entlassen, kämpfte Ichheiser erneut darum, Anschluss an die University of Chicago zu finden. Im November 1969 schied er freiwillig aus dem Leben.
Werk: Ichheiser war ein äußerst produktiver Forscher, der sich zeit seines Lebens einer großen Fülle von thematisch sehr verschiedenen sozialpsychologischen Fragestellungen annahm. Die Fruchtbarkeit seiner letztlich auf Franz Brentano (1838-1917) zurückgehenden phänomenologischen Arbeitsweise demonstrierte er eindrucksvoll mit seiner Monografie über die Kritik des Erfolges (Ichheiser, 1930). In seiner Wiener Zeit publizierte er zudem zahlreiche Studien über berufs- und arbeitspsychologische Probleme. In den USA wurde er zu einem der Wegbereiter der modernen Attributionsforschung, wobei sich Ichheiser vor allem für die soziale Bedingtheit und die sozialen Auswirkungen von Attributionsprozessen interessierte (z. B. Ichheiser, 1949). Beachtung fanden schließlich auch seine um ethnische, insbesondere aber antisemitische Vorurteile kreisenden Beiträge zu einer politischen Psychologie. Über seine psychiatrische Internierung hat Ichheiser ein unveröffentlicht gebliebenes Manuskript verfasst, in dem er seine Krankheit und seine jahrelange Internierung in einer psychiatrischen Anstalt retrospektiv analysiert (Ichheiser, 1966).
Primärliteratur:
Ichheiser, G. (1924). Gegenstand der Ästhetik. Eine kritische Untersuchung. Dissertation, Universität Wien.
Ichheiser, G. (1930). Kritik des Erfolges. Eine soziologische Untersuchung. Leipzig: Hirschfeld.
Ichheiser, G. (1949). Misunderstandings in human relations: A study of false social perception. Chicago, IL: University of Chicago Press.
Ichheiser, G. (1966). Was I insane – or was I „railroaded“ to a state hospital? My own retrospective introspection. Unpublished manuscript, University of Chicago.
Tauber, H. (2002). Zwischen Arbeit und Kapital. Psychotechnik im Österreich der Zwischenkriegszeit. Diplomarbeit, Universität Wien.
Sekundärliteratur:
Rudmin, F., Trimpop, R. M., Kryl, I., & Boski, P. (1987). Gustav Ichheiser in the history of social psychology: An early phenomenology of social attribution. British Journal of Social Psychology, 26, 165-180.